Unsichtbare Brüche“ -
Das Tabu - ein Medium und seine Ästhetik

©  2002 by  Michael Kröger / Stiftung Museum Schloss Moyland / Osnabrück
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In Zeiten, in denen, wie gegenwärtig auf der documenta 11 zu beobachten, die Grenzen zwischen Kunst und Politik zwischen fremd gemachter Wahrnehmung und selbst präsentierter Inszenierung immer stärker verschwimmen, arbeiten Künstler wie Politiker und Politiker wie Künstler immer direkter mit austauschbaren Medien öffentlichkeitsbezogener Präsentationsstrategien. Das Medium dieser Art von Betrachteransprache ist ein ebenso archaisches wie auch modernes Mittel der ästhetischen und sozialen Differenzierung: es geht um die strategisch geplante Inszenierung und Anwendung von tabuisierten, politisch "inkorrekten" Wahrnehmungsleistungen. Ausgesprochene Tabus muten der Mediengesellschaft mit Vorliebe Überraschungen und (kalkuliertes) Erschrecken zu. Tabus sind Messstationen kultureller Selbstzwänge wie auch Frühwarnstationen gesellschaftlicher Entwicklungen, die sich nur so und nicht anders - in Form von artikulierten Tabubrüchen - bemerkbar machen können. Das Operieren mit Tabus und Kalkulieren von Tabuverletzungen gehört zu den beliebten ästhetischen Verfahrensweise der neueren Moderne, die immer mit einer prekären Asymmetrie aus verdrängtem Wissen und provozierten Affekten arbeitet.

Eine interdisziplinäre Theorie und Geschichte des Tabus (1) existiert bislang noch nicht, geschweige denn eine eigene, spezifisch performative Ästhetik des Tabubruchs oder auch nur eine seriöse Kunstgeschichte des Tabubruchs im 20. Jahrhundert. Im weiten Feld des inszenierten Tabu(bruchs) überschneiden sich Strategien medialisierter Politik und eine Ästhetik kontextuell gebastelter Leerstellen, mit denen KünstlerInnen heute zunehmend die Diskurse der Medieninszenierungen zu unterlaufen suchen.

KünstlerInnen verstehen sich seit dem 20. Jahrhundert immer auch als Andere, als Personen, die innerhalb der Gesellschaft auch Positionen einnehmen, die ihnen einen Blick auf die Gesellschaft von Außen erlauben. Die Frage, die sich dabei stellt, ist allgemeinerer Natur: wie kann der/die Künstler/in einen Ort/oder ein Thema markieren, das erlaubt, das Eigene als Fremdes und das Innere im Äußeren zu erfahren? Für Künstler/Innen spielt dabei das "Austesten" von Grenzsituationen eine zentrale Rolle. Wie kann man das Eigene als Fremdes beobachten? Diese Frage stellen sich heute viele - vor allem auch KünstlerInnen. Hierbei spielt besonders der Umgang mit Tabus eine wichtige Rolle. Ohne die Reflexion und Beobachtung von Tabus wäre eine Grenzüberschreitung und damit eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft nicht möglich. Anders als der Skandal, der bewusst in den Medien "gesteuert" werden kann, funktioniert ein Tabu weitgehend unbewusst - es artikuliert unbestimmte, historisch geprägte und subjektiv höchst unterschiedlich wahrgenommene Abwehrmechanismen und kollektive Ängste, die um so intensiver werden, je bewusster die Verletzung des Tabus wahrgenommen wird.

Das demonstrative Verletzen von bestehenden Tabus (Gewalt, Sexualität, Körper, Religion) ist seit jeher eine Form, mit der sich die KünstlerInnen von der "Normalität" des Alltäglichen unterscheiden und sich hierdurch sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft stehend positionieren können.

Tabus dürfen nicht mit Verboten verwechselt werden. Ein Unterschied zwischen direkt verbotenen und tabuisierten Handlungen besteht darin, dass über Verbote durchaus gesprochen werden kann, sie z.B. nach einer rationalen Begründung hinterfragt werden können. Tabus aber stehen außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet. Bekannt ist dieses Phänomen bei Nahrungstabus und in der Sozialisation des Kleinkindes, dem schon sehr früh bestimmte Handlungen und Berührungen durch Äußerungen wie 'Das macht man nicht', 'Das gehört sich nicht' etc. untersagt werden. Tabus werden durch solche unartikulierten Imperative im Erziehungsprozess so weit internalisiert, dass "gesetzliche Regelungen und formelle Sanktionen vielfach überflüssig" werden (....) (2)

Ein Tabu konstituiert dabei, allgemein formuliert, einen Ort der Ausgrenzung von sozialen Übereinkünften und ein paradoxer Ort der offensichtlichen Unsichtbarkeit. Welche Tabus muss heute ein Künstler sichtbar durchbrechen, um eine Position von Außen einnehmen zu können? Und inwieweit kann (und will!) sich eine Gesellschaft heute dabei selbst beobachten, wie sie erkennt, wie ihr mittels bestimmter Tabuverletzungen ein Spiegel ihrer (meist doppelten) Moral vorgehalten wird. Das, was eine Gesellschaft - bewusst oder unbewusst - als Tabu behandelt (z.B. die Darstellung von Gewalt) ist dabei genau das, was sie aus dem öffentlichen Gespräch ausgrenzen muss, weil sie es nicht zulässt oder selbst wagt, über diese (Tabus) öffentlich zu sprechen. In einer Gesellschaft, in der es aber eigentlich nichts gibt, über das man nicht kommunizieren könnte (wie z.B. in den täglichen Talkshows), ist letztlich auch ein Tabu ein Thema, bei dem man sich selbst erfahren muss.

Ein Geheimnis kann Geheimnis bleiben. Ein Tabu ist dagegen ein Gebot, das durchbrochen werden muss. Einem Tabu kann niemand ausweichen. Gegenüber der Verletzung eines Tabus muss man, so oder so, Position beziehen. Man kann aber auch erkennen, wie das Tabu selbst auf uns und in uns wirkt. Ein Tabu wirkt in einer Art selbstauferlegter Stummheit - wer etwa glaubt, dass man über Gewalt nur in einer bestimmten (z.B.moralisierenden) Weise öffentlich sprechen darf, gibt damit zu verstehen, dass er grundsätzlich nicht über andere Wahrnehmungen/Wertungen von Gewalt sprechen möchte. Er möchte an dem Tabu, das die Gesellschaft errichtet hat, aus welchen Gründen auch immer, festhalten. Anders dagegen KünstlerInnen - sie brauchen notwendig das Tabu: um selbst einen Ort außerhalb des Sozialen (der Gesellschaft, der Sprache, der Kunst, der Medien) zu finden und - durch die Verletzung des Tabus - eine Wahrnehmung von Tabus innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Tabuverletzung kalkuliert eine erwarteten Störung von Erwartungshaltungen ein. Eine im Medium der Kunst realisierte Tabu-Wahrnehmung ermöglicht vor allem Selbst-Reflexion: Man erkennt erst dann ein Tabu und seine soziale Funktionen, wenn man bereit ist, ein Tabu als Akt einer Störung (z.B. von unbewusst anwesenden kollektiven Einstellungen) wahrzunehmen.

Allgemein und anwendungsbezogen formuliert: Ein Tabu ist ein Medium eines sozial artikulierten Vermeidungsgebotes. Indem das tabuisierte Objekt symbolisch (aus der Welt der Sprache und des Handelns) ausgegrenzt wird, wird es indirekt als Tabu innerhalb der aktuellen Kommunikation markiert. Ein tabuisiertes Objekt spaltet dabei die Innenseite des Objekts, den Affekt, der mit dem Objekt ursprünglich verboten war, von seinen späteren Gebot - der Vermeidung seines Gebrauchs. Das Aussprechen eines Tabus ist so doppeldeutig: es grenzt das Objekt aus der Sprache aus und hinterlässt im Bewusstsein einen Nicht-Ort, eine Art gefühlte Abwesenheit. Das Schweigen, mit dem Tabu wirkt, ist dabei zugleich die Macht desjenigen, der die Zeit und die Art und Weise bestimmt, mit der das Gebot formuliert wird.

Tabus wirken im Kontext der Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In diesem Sinne fungieren sie vor allem auch als Medien komplexer kognitiver Verarbeitungsweisen (3). Man könnte das Tabu beispielsweise etwa als die Kehrseite der Assoziation untersuchen. Während die Assoziation einen überraschend neuen Zusammenhang zwischen so bisher unbekannten Elementen erst stiftet, zwingt das Tabu durch die Tabuisierung (die Öffentlichkeit) dazu, das in der Vergangenheit (indirekt) Ausgegrenzte als unterdrücktes Objekt wieder nachträglich in den aktuellen Diskurs und die Wahrnehmung aufzunehmen. Ein Tabu arbeitet mit dem verdrängten Affekt, indem es mit dieser Verdrängung spielt (Günter Grass´ Novelle "Im Krebsgang" ist in diesem Kontext ein Text, der mit vielen lebenslang andauernden Tabus arbeitet). Das Tabu ordnet zudem die Beziehungen zwischen vermiedenem Objekt/Gebot und ausgegrenzter Sichtbarkeit, die Assoziation zwischen herbeigeführter Ähnlichkeit/Differenz und provozierter Nähe zwischen den Elementen, die selbsttätig "Neues" zu erzeugen scheint. Tabus schärfen die Beobachtung einer auf Selbstbegrenzung hin orientierten Wahrnehmung: Tabus lassen uns erkennen, dass unsere Art ein Tabu zu tabuisieren, einen untergründigen medialen Raum des Verdachts (Boris Groys) konstituiert. Im Raum des Tabus liegt, mit Groys gesprochen, auch ein submedialer Raum des Verdachts eingeschlossen.

Die Büchse der Pandora (4), jener antike Mythos, des Geschichte von Dora und Erwin Panofsky meisterhaft nachgezeichnet wurden, kann vielleicht als Vorläufer aller Tabuformen gesehen werden. In dem Moment, in dem Pandoras Box geöffnet wird, enthüllt für die Menschen eine Form von Wissen, in dem Erkenntnis und Neugier durch ein Symbol eines Gebots gehemmt und provoziert wurden. Der Ort, an dem wir Kunst und die Funktionen von Tabus in unserer Gesellschaft von Innen und von Außen beispielhaft und mustergültig beobachten können, ist eine tabusensible Zone, das Museum: es macht (teilweise erschreckend) einsehbar, was unsichtbar und häufig unbewusst ist (ein Tabu) und es lässt im Paradox-Unbestimmten, was als Tabubruch unsichtbar wirkt und zugleich äußerlich sichtbare Form annimmt (das tabuisierte Kunst-Objekt). Indem wir über Tabus (und die Tabus in der Kunst) sprechen, sprechen wir schließlich über die Art und Weise, wie wir uns selbst im Medium von tabuisierten Wahrnehmungsleistungen wahrnehmen und wie wir - als beteiligte Opfer und Akteure in Tabukontexten - agieren.

 

Anmerkungen
1) Zur Geschichte des Begriffs vgl. vor allem die Arbeiten von Hartmut Schröder, Tabu. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Germanistik. Stuttgart 2002: Stauffenberg Verlag. [im Druck]sowie weitere Aufsätze von Hartmut Schröder unter: http://tabu.sw2.euv-frankfurt-o.de/impressum/index.html. Außerdem: W. Mennninghaus, Ekel-Tabu in der ästhetischen Theorie 1740-1790.In: POETICA, Bd.29, S. 405-431; Hermann Korte, Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus. Bonn 1989; Thomas Emmrich, Tabu und Meidung im alten China. Bad Honnef 1992; Christoph Türke, Gewalt und Tabu-philosophische Grenzgänge. Lüneburg 1992. Hans Peter Schwerfel, Kunstskandale, Köln 1997. sowie jüngst Hartmut Schröder, Tabu. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Germanistik. Stuttgart 2002: Stauffenberg Verlag. [im Druck] sowie Aufsätze von Hartmut Schröder vgl: http://tabu.sw2.euv-frankfurt-o.de/impressum/index.html;
aktuell: Jürgen Habermas, Tabuschranken. Eine semantische Anmerkung - Für Marcel Reich-Ranicki, aus gegebenen Anlässen. In: Süddeutsche Zeitung vom 07.06.2002 . Die einzige mir bekannte Ausstellung zum Thema TABU im Kantonsmuseum Baselland Liestal (15. November - 7.April 200 2) näherte sich der Thematik durch die Inszenierung spektakulärer "milesstones von Tabubrüchen unterschiedlichster Art.

2) Zit. n.: Hartmut Schröder unter: http://tabu.sw2.euv-frankfurt-o.de/impressum/index.html, o. S.

3) Hans-Joachim Neubauer. Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Berlin1998;
Jonathan Crary, "Aufmerksamkeit"-Wahrnehmung und moderne Kultur, Ffm 2000; Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten. Hg. von Sigrid Schade. Wien 2000.(siehe dazu die Rezension in: H-ArtHist.net v. Verena Kuni); Neil Postman, Die zweite Aufklärung.,(bes. Kap.5, Information).Berlin 2000, S. 105 - 124; Michel Frizot. Negative Ikonozität. Das Paradigma der Umkehrung .In: Peter Geimer(Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Ffm 2002, S. 413 - 433. Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München 2000. Vgl. auch das Symposion Pathos, Affekt, Gefühl. Oper Frankfurt, 30. Mai - 2. Juni 2002.


4) Vgl. Dora und Erwin Panofsky, Die Büchse der Pandora. Ffm, New York 1992.