Grenzen und Entgrenzen

Zur Praxis beobachtenden Betrachtens im Raum der Kunst

©  2001 by  Michael Kröger / Stiftung Museum Schloss Moyland / Osnabrück
e-mail mikroeger@web.de

Kunst ist Form. Form heißt entformeln1

Grenzgänge

Im Zeitalter der Globalisierung ist die Rede von offenen Grenzen schon fast zu einem (beliebigen) Topos geworden. Die Kunstgeschichte hat sich schon früh mit der Markierung, Aktivierung und Ent-Grenzung von ästhetischen Grenzen auseinandergesetzt.

Die Wahrnehmung von Grenzen zwischen Bild- und Realraum hat die Kunstgeschichte - insbesondere deren rezeptionsästhetisch orientierte Vertreterinnen und Vertreter -  in den letzten Jahren auffällig häufig beschäftigt. Wer Grenzen definiert, definiert zugleich auch die Grenzen der im Werk reflektierten  Kunstwahrnehmung - und schafft damit rasch sich verselbstständigende Folgeprobleme. Die zunehmend zu beobachtende „Selbst-, Medien- und Metareflexion der Kunst“ (so Michael Diers in der  FAZ vom 11.04. 2001) verändert zur Zeit spürbar die „alten“ kunstwissenschaftlichen Argumentationsweisen und richtet gegenwärtig die Aufmerksamkeit besonders auf die methodischen Vorentscheidungen der jeweilig aktuellen Praxis kunsthistorischen Arbeitens. In unterschiedlichen ästhetischen Kontexten wird erkennbar: Wer Grenzen thematisiert, definiert damit eigenständige Zugangsweisen (und sieht nicht zuletzt aus seinem elfenbeinernen Turm mit verändertem Blick). „Die Ein- und Ausschluss-Regeln, die die Kunstgeschichte als Disziplin selbst generiert hat, um zu Konzepten von Kunst und Künstlerschaft zu gelangen, in Frage zu stellen heißt auch, die Konstitution der Disziplin und ihre Grenzen selbst zu befragen2 so charakterisierte Sigrid Schade kürzlich die aktuelle Situation der Kunstgeschichte. Wie generiert die Kunstgeschichte eigentlich ihre Aussageformen? Und welche Konzepte entwirft sie eigentlich von den Grenzen ihrer eigenen Profession?

Spätestens seit der klassischen Moderne hat die Kunst in unterschiedlichen Ausprägungen immer wieder Versuche zu ihrer eigenen Selbstentgrenzung und -erweiterung unternommen; programmatisch vorgetragene Äußerungen wie beispielsweise diejenige des permanenten Grenz-Erweiterers Joseph Beuys „Meine Stellung zur Kunst ist gut. Meine Stellung zur Antikunst ebenfalls“ (1969) formulierten sein Anspruchsniveau im Gestus lakonisch vorgetragener, provozierender Selbstwidersprüchlichkeit. Wie bestimmen sich Grenzen3 in ihren Innen- und Außenbeziehungen zum Raum der Kunst, der auf  entsprechende Grenzmarkierungen und  -formulierungen angewiesen ist? In welchem Raum steht nun der Kontext, in dem Grenzen und Grenzziehungen formuliert werden und ihrerseits ästhetische Bedeutungen vermitteln? Wie lassen sich die Grenzen, in denen künstlerische Konzepte (und auch entsprechende kunsthistorische Argumentationsverläufe) um die Formen ihrer Darstellung zirkulieren, ihrerseits transparent machen? Und schließlich: Inwieweit bestimmen sich diese Formulierungen zu diesen Grenz-Fragen des Ästhetischen ihrerseits als ein offenes und/oder geschlossenes ästhetisches Geschehen?

Formulieren wir einen Bezugspunkt. Ein Kunstwerk präsentiert sich selbst als BILD, dessen Betrachtetwerden ein Medium erzeugt, das in und mit seiner Form der Darstellung als auch sprachlich formulierte Bezugnahme auf eine weithin unbestimmte Wirklichkeit erscheint. Man kann die Probleme kontextuellen Darstellens und Denkens vor allem auch als Realisierung einer jeweils zu aktualisierenden Bezugnahme bestimmen. Eine Bezugnahme realisiert, allgemein gesagt, die Art und Weise, wie das Werk selbst intern auf bereits realisierte Bezugnahmen reagiert. Eine Bezugnahme ist, in unserem Zusammenhang abstrakt formuliert, eine offene Form der Darstellungsbegrenzung, in der präsent wird, dass etwas begrenzt erscheint  - und zugleich wie etwas nicht präsentiert wird, obwohl eine Bezugnahme erscheint, in/mit der etwas (Abwesendes) realisiert wird. Eine Grenzen setzende Bezugnahme schließt Formen der Präsentation ein, indem sie als bezugnehmende Form auch Formen des Nichtbezugs ein- bzw. ausschließen kann. Jede Bezugnahme ist dabei ein doppelwertiges Selbstelement in der Darstellung von Kunst: es repräsentiert sowohl eine Menge von Beziehungen und präsentiert als Form gewordene, angewandte Bezugnahme auch selbst ein Element innerhalb einer Form von Darstellung, in der und mit der sie selbst in  historischen, ästhetischen, formalen Beziehungen betrachtet und im Vollzug des Werkes präsent gehalten wird.   

Das Problem, den historischen Begriff und den systematischen Status von Kunst in selbst-reflektierender Weise zu bestimmen, verschärft sich angesichts der heutigen paradoxen Situation dieses Unbestimmte im Feld der Kunst - als scheinbar unbegrenzten Ort, Raum und Geschehen - zu bestimmen, in dem dieses Geschehen zwischen Entgrenzung (ihres unbestimmt bleibenden Kontextes) und Begrenzung (ihrer kontextuell bestimmten Strukturierung offener „Wahrnehmungsperspektiven“) durch einen Formulierungsprozess entsteht. Kunst entsteht trotz aller bisherigen  programmatisch inszenierten Entgrenzungsversuche wohl gerade umgekehrt: durch das bestimmte Markieren von Limitierungen innerhalb eines Kunstkontextes. Der Kontext, in dem ästhetische Ereignisse formulierend Form gewinnen, aktiviert sich durch die besonderen Formulierungen von äußeren und inneren Distanzen, die das Werk vom Prozeß ihrer Betrachtung trennen und es gleichzeitig mit diesem Vollzug in dieses rückbeziehen.

Betrachtendes Beobachten

Was man erst seit den letzten Jahren genauer zu reflektieren gewohnt ist, ist die rezeptions-ästhetisch gewonnene Erkenntnis, daß man Kunst nicht nur von Außen beobachtet, sondern - implizit - mit ihr betrachtend handelt, indem man auf die Formen ihrer Kreationen, Selbst-Stilisierungen, Markierungen, Entgrenzungen, Störungen usw. reagiert - also allgemein formuliert: Formen des Betrachtens im Kunstkontext beobachtend zur Darstellung bringt. Daß Kunst wie alle Formen außerhalb des Kunstkontextes präsentiert werden, bedeutet nicht, daß sie ihren Ort und ihren Sinn durch fortgesetztes Entgrenzen verloren hat, sondern, daß sie an zusätzlicher innerer Autonomie gewonnen hat, indem sie sich selbst und ihre erweiterten Funktionen innerhalb der Gesellschaft (bzw. des Kunstdiskurses) trennschärfer als bisher zu definieren gezwungen ist. Kunst bestimmt sich heute weniger durch Erweiterung als durch die Bestimmung ihrer materiellen Grenzen, in deren Bereichen sie sich zu profilieren hat. Werke realisieren sich in medialen Umgebungen, mittels bestimmter Modi werkorientierter Präsentation und Betrachtung, die Beziehungen zu historischer und gegenwärtiger Kunst formulieren und als solche in ihre äußeren Darstellungsformen eingeschlossen seien können. Kunst ist, worauf vor allem die Rezeptionsästhetik der letzten zwei Jahrzehnte (Wolfgang Kemp; Hans Belting, Werner Busch) aufmerksam gemacht hat, vor allem auch eine Kunst der Ein- und Ausschließung; indem die (ausgeschlossenen) Betrachter ihren Anteil an der Werkentstehung erkennen, reflektieren sie die argumentativ entwickelte Form, in und mit der sie sich der Grenze dessen annähern, wie <Kunst> bestimmt, d.h. historisch, ästhetisch, anthropologisch oder sonstwie markiert wird. In der Form einer bestimmten Reflexion formt sich ein unbestimmter Teil des Werkes, der als Medium zwischen Werk und Kontext selbst Form gewinnt. In diesem den Betrachter involvierenden Realisationsprozess von Form und Formulierung hat sich das Konzept des Kontextes als höchst anschlussfähig für die Kommunikation mit dem Medium Kunst erwiesen.

Der Begriff des Kontextes umfaßt dabei einen Modus der Verknüpfung, mit dem die sinnliche Erscheinung eines Werkes eine Distanz zwischen der historischen Form der Re-Präsentation und dem Ereignis seiner jetzt aktuell gewordenen Weise historischer Werk- und Selbst-Erfahrung aufbaut und darbietet. Distanz umschreibt das Resultat einer Form(ulierung) von Kunst-Kommunikation mit/in einem Modell von Werk, in dem die im Werk reflektierten Beziehungen als Modi intern verdoppelter Beziehungen zur Darstellung gelangen. Distanz ist Form gewordenes Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen den aufeinander bezogenen Werkelementen und wird als im Werk realisierte Reflexionsleistung dargestellt.

Unterscheidungen unterscheiden

Kunst-BetrachterInnen arbeiten im Raum der Kunst(-Geschichte) traditionellerweise mittels einer jeweils vorausgesetzten, internen Grenzziehung: gemeint ist hier die Markierung einer Unterschiede realisierenden Unterscheidungsleistung, die zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Selbst- und Fremdbezügen, zwischen Präsenz und Abwesenheit, zwischen Fiktion und Realität künstlich geschaffene Einteilungen produziert und damit unsichtbar wirkende diskursive Ein- und Ausgrenzungen vornimmt. „Seit den 70er Jahren ist die Frage, wo das künstlerische Bild / die künstlerische Praxis ende und wo sein/ihr Rahmen beginne, zum ideologiekritischen Ansatzpunkt der konzeptuellen Kunst und der dekonstruktivistischen Philosophie geworden.“4 Diese beispielhaft „selbstkritisch“ formulierte Einschätzung Stefan Römers arbeitet ausgesprochen extrinsisch, indem sie von Außen beobachtend an tradierte ästhetische Unterscheidungsmerkmale (Bild, Rahmen) anknüpft und implizit die Kunstpraxis der Kunstreflexion gegenüberstellt. Doch der Kunstbeobachter ist immer auch ein intrinsisch handelnder Akteur5, der aktiv Beziehungen zum Geschehen im Geschehen eines kunstbezogenen Formulierens herstellt. Inzwischen verdichtet sich die Erfahrung zur Erkenntnis, daß Unterscheidungsleistungen als historisch (institutionell, rhetorisch, materiell usw.) vermittelte „Formulierungen“ innerhalb eines Kunst-Diskurses fungieren, mit der Kunst als historisch-theoretisch und rhetorisch bestimmtes Geschehen von Formulierungen zur Entstehung von Kunst im Raum der Kunst realisiert wird.

Die in regelmäßigen Abständen  immer wieder beschworenen Thesen vom Ende der Kunst6 haben, wenn der Anschein nicht trügt, gegenwärtig an intellektueller Sprengkraft verloren. Statt weiterhin das Ende der Kunst zu beschwören, wird - auch im Kontext einer Suche nach der spezifischen Ästhetik der Neuen Medien/Netzkunst - die kognitive Leistung eines kommunikativen Austauschs zwischen <Kunst> und <Medien> unübersehbar. Kunst entsteht demnach, ähnlich wie andere kommunikative Interaktionen, durch und mit einem sprachlich konstruierten Prozess interner Differenzierung in Form und Medium; die Entstehung von Kunst wird damit als  rhetorisch/medial erzeugte Paradoxie7 beobachtbar, in der sowohl Widersprüche zwischen Kunst und Nichtkunst als auch die Wechselbeziehungen zwischen den Medien und den Künsten8 in Erscheinung treten. Der Rahmen, in dem sich Kunst ereignet, enthistorisiert einerseits seine Darstellung als Medium und transformiert gleichzeitig sein Medium als bestimmte Formulierung eines ästhetischen Inneren, in und mit dem die Akteure die vielfachen Rahmungen des Wahrnehmens wahrnehmen - und verändern, in dem sie dieses in neuen Kontexten sehen beziehungsweise in ihrer jeweiligen Gegenwart erkennen.

Auch wenn heute der Maßstab dessen, was sich als Text und Kontext, Medium und Form präsentiert, vielfach entgrenzt und unbestimmt erscheint, lassen sich gegenwärtig Kontexte

zur Kunst formulieren, die intern mediale Begrenzungen des Kunstbegriffs notwendig werden lassen. Kunst handelt auch von einem doppelten, einem bestimmten und einem sich selbst zu bestimmenden ästhetischen Handeln - wie beispielsweise auch davon, die maßlosen Entgrenzungen der Kunst intern zurückzunehmen und im Hinblick auf ihr eigenes Formuliertwerden gegen sich selbst abzugrenzen, mithin mit und aus einer selbsterzeugten Distanz heraus zu operieren. Die in der Moderne zentral gewordene Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst erweist sich also Folge einer doppelten Ein- und Ausgrenzung. Kunst ist auch als Nichtkunst Kunst.9 Was einerseits konzeptuell widersprüchlich erscheint, stiftet in der Duplizierung des Sachverhalts Sinn nur in paradoxer Form: Der Begriff Nichtkunst markiert implizit eine offene Grenze zur Kunst und erschafft als derart entgrenzte Sphäre eine Welt außerästhetischer Beziehungen; komplementär dazu entsteht Kunst als Ereignis einer akzentuierten Wahrnehmung von Kunstwahrnehmung - unter anderem auch dadurch, indem die Grenzen des Kunst- und Nichtkunstbereiches heute als offene Variablen fungieren. Oder allgemeiner gesagt: Was getrennt erscheint, kann systematisch vereint dargestellt werden.

Distanz und Distanzierungen

Mit der kognitiven Metapher der Distanz10, welche Werke auf unterschiedlichen Ebenen ihrer Darstellung und vor allem durch den Prozess ihrer historischen Rezeption miterzeugen, verkörpert sich - im Medium ihrer Präsentation - eine Weise bestimmter Reflexion, die ihrerseits eine unbestimmte Beziehung zum Prozeß des Betrachtetwerdens aufbaut und die in der Art und Weise der Präsentation eines Werkes eingeschlossen ist. Distanz umschreibt hierbei keine sprachlich fixierbare Erfahrung, mit der der sinnliche Vollzug einer ästhetischen Wahrnehmung umschrieben werden kann, sondern den Aufbau eines vom Werk initiierten Gewahrwerdens (Martin Seel)11 , einer hier und jetzt entstehenden Aufmerksamkeit für eine Differenzerfahrung innerhalb einer jeweils konkret definierten ästhetischen Situation. „Objekte der Kunst sind anschauliche Darbietungen in dem ganz elementaren Sinne, daß niemand das Dargebotene mitbekommen kann, der nicht für das sinnliche Medium dieser Darstellung aufmerksam ist“, schreibt Martin Seel in seiner „Ästhetik des Erscheinens“12. Doch die Option des Zugangs und der Aufmerksamkeit für die demonstrativen Vollzüge bestimmter ästhetischer Wahrnehmungen, die Martin Seel detailliert ins Spiel, zur Vor- und Darstellung bringt, schließt nun nicht aus, daß auch die Distanz selbst zur werkgebundenen Wahrnehmung in Prozeß der Werkentstehung eingeschlossen und mitgedacht und - markiert werden kann.

Im Bild der Distanz realisiert sich innerhalb des Betrachtetwerdens des Werkes auch eine bestimmte Entfernung von der räumlichen und zeitlichen Gegenwart des Werkes. Im und mit dem Bild einer Distanz distanziert sich das Werk (und die Geschichte historischer Werkreflexion) seinerseits von den bereits historischen reflektierten Formen der Werkbetrachtung, durch die neue Weisen der Übertragung und Formulierung von Wechselwirkungen - zwischen der immateriellen Form und dem medialen Träger einer Darstellung - hergestellt werden.

Das Werk erscheint somit als sein ihm selbst eingeschriebener Nachfolger, als Folge einer sachlich, ästhetisch, historisch (in-)formierten Form einer Distanzierung und einer markierten Formulierung der Erfahrung einer medialisierter Nähe, die buchstäblich hier - an der Grenze zum Werk - Beziehungen in die Welt setzt, die ihrerseits weitere Unterscheidungen zwischen Beziehungen und Wahrnehmungen zum Werk provozieren. Eine derart konstruierte, Form gewordene Ordnung von Beziehungen erarbeitet einen Anteil einer Realisation, einer jetzt realisierten Kommunikation zwischen Werk, Beziehungen und Betrachter; der Kontext markiert dabei jene räumliche Stelle, in der die Form gewordene Beziehung mit dem Ereignis seiner Re-Präsentation in eine (auf das System rückwirkende) Beziehung gesetzt wird. Als selbst unbestimmter Modus fungiert der KONTEXT als eine argumentierende Form der (Re-)Formulierung einer Form, in und mit der das Betrachten von Beziehungen mit einem Prozess des Formulierens von intern verlaufenden Unterscheidungen prozessiert und präsentiert wird. Was im Kontext betrachtet und als Ort einer Unbestimmtheit erfahren wird, vermittelt sich in und durch die Darstellungsmedien einer ästhetisch gewordenen Kunst der Präsentation, in der das Formulieren einer bestimmten Selbstreflexion und eines bestimmten Kunst-Wahrnehmens im Raum des jeweiligen Mediums dargestellt wird.

Abschluß und Abschließung

Der Kontext repräsentiert in den Kunst- und Geisteswissenschaften gegenwärtig vielleicht etwas ähnliches wie die unbestimmte Metaphorik des Gens13  in den Naturwissenschaften; als strukturbildender Begriff operiert dieser dabei als eine Weise, in/mit der die werkorientierte Unterscheidung von Außen und Innen in einen werkdifferenzierenden Prozess der Übertragung und Übertragbarkeit von Beziehungen transformiert wird. Kontexte ermöglichen Bild-Systemen komplexe Veränderungen ihrer Zustände in der Zeit ihrer historischen Realisation und Rezeption.

Wo bislang eine gleichzeitige Differenz zwischen Innen und Außen, Darstellung und Präsentation in Form eines Ineinanders formuliert wurde, wird nun ein Nacheinander von Optionen, ein im Medium der Darstellung stattfindender, offener Kontext- und Aspektwechsel realisiert. Was sich von einem Kontext bzw. einem Aspekt eines Kontextes auf einen anderen Aspekt eines Kontextes beziehen läßt, ist abhängig von der Art und Weise der realisierten Beziehung; die so reflektierte Form der Rückbeziehung eines Kontextes auf einen anderen erfordert den jeweilig gewählten Wechsel der Perspektivierung des gegenwärtigen Kommunikationsgeschehens: das heißt ein Markieren und Begrenzen des jeweils wahrgenommenen Kontextes, in dem sich Kunst als Kunst in mehrdimensionalen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsaktivitäten profiliert. „Ist die Grenze der Kunst die Kunst?“ fragte kürzlich Paolo Bianchi14. Wohl kaum - eher die äußere Form, in der Begrenzungen im Innenraum einer Darstellung erzeugt werden. Was dort eindeutig im Kontext betrachtet wird, ist hier als eine mehrdeutige, übergreifende Struktur wirksam, in der sich die Übertragung von Wahrnehmungsoptionen zwischen unterschiedlichen Kontexten und im Hinblick auf ihre eigenen Begrenzungen formulieren läßt. Komplementär zur Figur des Kunstbetrachters, der sein eigenes Handeln beobachtet15 , gilt dieser Aspekt auch für die Austauschbeziehung zwischen Werk und Kontext. Anders als die von der Kunstgeschichte immer noch kaum beachtete Film- und Medientheorie, die seit den siebziger Jahren eine Analyse der Metaphorik des machtorientierten „Dispositivs“ des (Kamera-)Blicks16 entwickelte, betont der Begriff des Kontextes ein aktivierbares Feld von Beziehungen, in dem der Betrachterblick sich selbst (indirekt) konstituiert, indem er die Beziehungen zwischen dem Innen und Außen herstellt und in einer kontextuellen Darstellungsoberfläche realisiert.

Am Ende dieser Fragen 17 zur Kunst stehen weniger Antworten als unbestimmt realisierte

Weisen des Eröffnens und des Abschließens, des Erinnerns 18 und Vergessens, des Enthüllens und Verhüllens, des Problematisierens von Problemen und des Realisierens von Lösungen - immer handelt es jedoch um Formulierungen zu kunstbezogenen Formulierungen im Raum der Kunst. Hierbei sind „Begriffe aktive Erkenntnisprozesse, die sich Gegenstände beziehen, die in (komplexer)Bewegung sind, und von Subjekten verwendet werden, deren Aktivität als Teil des Begriffs gesehen wird.“19 So betrachtet sind die Formen kunsthistorischer Texte 20 mehr oder weniger reflektierte Kommentare zur Kunst und als solche Form gewordene Selbstbezüge. Wie alle humanwissenschaftlichen Darstellungen sind auch diese „ Fiktionen, und zwar in dem Sinne, daß sie etwas „Gemachtes“ sind, etwas „Hergestelltes“ - die ursprüngliche Bedeutung von fictio (...)21 schreibt der Ethnologe Cliffort Geertz in seiner wichtigen Arbeit Dichte Beschreibung (1987) über sein Metier.

Abschluß und Eröffnung - Kunst und Pointe

In jüngster Zeit problematisiert die Kunstgeschichte zunehmend die selbst in der Kunstgeschichte wenig reflektierten Konzeptionen des BILDES22 . Man kann diese offene Diskussion im Schnittpunkt zwischen angewandter Anthropologie, systemischer Kunstgeschichte und Rezeptionsästhetik vielleicht so zuspitzen: Ein BILD unterscheidet sich von einem Medium, indem es die Grenzen eines Ortes markiert, der sowohl anwesend  als auch abwesend ist; in seiner scheinbaren Wirklichkeit (Fiktionalität) ähnelt das Bild dem Medium, das sich in seiner An- und Abwesenheit sowohl als Ort eines Medium als auch Medium zu einem Ort reflektiert.

Mit dem unbestimmten Bild eines BILDES werden unterschiedliche, im Werk erzeugte Leitdifferenzen - etwa die zwischen Medium und Ort, zwischen Einschluß und Ausschluß, zwischen Identität und Nichtidentität23 (oder wie etwa bei Hans Belting die „tradierte“ Differenz zwischen Körper und Schatten) - realisierbar gemacht ; dabei die Ähnlichkeit zwischen Medium und Ort innerhalb einer Form der Darstellung präsent, in der die Beziehung vom Bild zum Medium als Ereignis einer Beziehung vom Medium zum Ort einer Unterscheidung (doppelt) reflektiert wird: ein Bild erscheint so als eine Darstellung, in dessen bestimmter Form ein Medium von und mittels Unterscheidungen formuliert wird. Innerhalb eines Mediums werden diese Unterscheidungen als Modi von Ähnlichkeiten, in historisch und sachlich unterschiedlich weit reichende Selbst- und Fremdbezüge aktiviert. Die im Medium des Bildes realisierten Unterscheidungsleistungen erzeugen dabei werkorientierte Bilder von Ähnlichkeitsbeziehungen, die ihrerseits auf das Unterscheiden von Unterscheidungen zurückwirken. Eine Ähnlichkeit ist eine bildgebundene Form eine Mediums, in der Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbezügen hergestellt werden. Was im Modus eines Selbstbezugs formuliert wird, erscheint mit der Distanz des Fremdbezugs in einem Modus, der außerhalb stehend auf etwas Innenliegendes verweist.

Wenn man will  könnte man die hier sich abzeichnende Problematik in und mit dem Bild, dem Bild eines Endes abschließen. Um den Abschluß eines Zusammenhangs sinnvoll zu akzentuieren, wird  nicht selten eine überraschende Pointe inszeniert. Eine Pointe enthält einen im Kontext formulierten Aspekt, der den Abschluß einer Darstellung eröffnet und in sich selbst abschließt.

Die Pointe ist eine performativ gewonnene Formulierung für die Form einer Zuspitzung. Sie findet durch ihre kontextuelle Form eine Form der Selbstbegrenzung. Inwieweit ist die Kunst der Pointe eine Pointe für die Kunst? Besteht eine Form gegenwärtiger begrenzter Kunstwahrnehmung am Ende nicht im Prozeß der Formulierung von neuen alten Fragen an die Kunst? Oder enger und zugleich offener formuliert: Wie begrenzt eine an die Kunst gerichtete Frage ihren Kontext, indem sich mit dieser die Grenze (zum Raum) der Kunst verändert?

Anmerkungen



1 Zit n. aus: MERZ, 1924 H.8/9, S. 78.
2 Sigrid Schade, Kunstgeschichte. In: Wolfgang Zinggl, Spielregeln der Kunst. Amsterdam, Dresden 2001,
S. 88.  Zur Thematik der Vermitteltheit und Implikation von Wahrnehmungsleistungen - speziell der kunsthistorischen Konstruktion von Bildwahrnehmungen vgl. auch  Hans Ulrich Reck: Bild als Medium- Zeichen der Kunst. In: Hans Belting / Dietmar Kamper (Hrsg.) Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. München  2000. S. 173 - 210, bes. S. 188f.  Inzwischen wird die Konstruktion der Blickverhältnisse auch von neurophysiologischer Seite in den Blick genommen: vgl. Detlef B. Linke,  Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren. Reinbek 2001.
Die Thematisierung von ästhetisch bestimmten Grenzen und Begrenzungen wächst seit Ende der neunziger Jahre zunehmend. Vgl. zuletzt Hartmut Böhme, Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten. In: Hans Belting, Dietmar Kamper(Hrsg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. München 200, S. 37f. : „ Theorien sind so gut, wie sie die Grenzen ihrer Reichweite bestimmen, also mit ihrer Endlichkeit rechnen.“ (S. 37); Hans Friesen, Grenzüberschreitungen der Kunst: über Bildfunktionen und ästhetische Grenzen in der Kunst der Moderne. In: Eduard Führ (Hg.) Architektur im Zwischenreich von Kunst und Alltag. Münster 1997, S. 167-197; Ernst Michalsky, Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte. Berlin 1996 (Neuausgabe der ersten Auflage aus dem Jahr 1932); Markus Bauer, Thomas Rahn (Hg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Berlin 1997.  Bernhard Wadenfels, Grenzen der Ordnung. In: Vittoria Borsò, Björn Goldammer (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Baden-Baden 2000,  S. 23 - 35. 
Stefan Römer, Eine Kartographie: Vom White Cube zum Ambient. In: Ausstellungskatalog Dream City, München 1999, S. 46.
5 Vgl. Sybille Krämer, Zentralperspektive, Kalkül, virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen. In: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.), Medien/Welten/Wirklichkeiten. München 1998, S. 28f.
6 Horst Bredekamp, Metaphern des Endes im Zeitalter des Bildes. In: Heinrich Klotz )Hg.) Kunst der Gegenwart. Museum für Neue Kunst.  München New York,  1997, S. 32 - 37.
vgl. dazu  die „Paradoxien künstlerischer Praxis“: Kunstforum International, 1984 sowie Frank Kannetzky, Paradoxes Denken: theoretische und praktische Irritationen des Denkens. Paderborn 2000. Zur Paradoxie, die durch das Kommunizieren von Kommunikation notwendig entsteht vgl. die entsprechenden Arbeiten zur Kommunikationsproblematik von Niklas Luhmann; beispielsweise in Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Reden und Schweigen. Ffm 1989, S. 145ff.
vgl. Hans Ulrich Reck, Bild als Medium - Zeichen der Kunst. In: Belting / Kamper (s. Anm. 3),  S. 173 - 211;
Tilmann Baumgärtel, [net.art] Materialien zur Netzkunst. Nürnberg 1999, S.  015.  Sowie zuletzt: Anna Munster: Digitality - approximate aesthetics in: www.ctheory.com - Theory, Technology and Culture, Bd. 24, Heft 1-2, März 2001.
vgl. dazu: Robert Kudielka , „Das Ende der Kunst ist nicht das Ende“(Ad Reinhardt): Zehn Thesen zum Zerfall des Kunstbegriffs. In: H.P. Burmeister(Hg.) Kunst und Kunstbegriff im neuen Jahrhundert.(=Loccumer Protokolle 28/00). Rehburg Loccum 2000., S. 29 - 43. In diesem Band spricht Werner Hofmann dagegen ohne zu zögern von einer Kunst der Kunstlosigkeit (Werner Hofmann, Die Moderne und ihre Selbstwidersprüche, in: H.P. Burmeister, ebda., S. 21.) ohne zu berücksichtigen, daß auch der Bereich der Nichtkunst sich nur durch die Grenzen zum Kunstbereich definieren kann. Vgl. auch die Spielregeln der Kunst (s. Anm.2).
Erwin Panofsky spricht 1925/25 in seiner „Perspektive als ¸symbolische Form`“ von der Schaffung und gleichzeitigen Aufhebung der Distanz zwischen den perspektivisch dargestellten Dingen und Menschen; vgl. ders., in: Vorträge der Bibliothek Warburg 4, 1925-1925, S. 287. Wolfgang Kemp operiert mit den Begriffen der „kleinen“ und „großen Distanz“: ders., Sehsucht. Die Engführung. In: Ausstellungskat. Sehsucht. Schriftenreihe der Kunst - und Ausstellungshalle der Bundesrepublik. Bd. 4, 1995, S. 53 - 66. Vgl.außerdem  Carlo Ginzburg, Nähe und Distanz, Berlin 1999 und v. Verf., Betrachten und Inszenieren. Distanz bei Daniel Bräg. In: Aussstellungskatalog Daniel Bräg, Obstlandschaften, Museum Schloss Moyland 2001,
S. 51 - 55.
vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens. München 2000.
ebenda., S. 177.
Evelyn Fox Keller, Das Jahrhundert des Gens. Die Begriffe der modernen Biowissenschaften drohen zu einem Hindernis für unser Verständnis vom Leben zu werden. In: FAZ vom 20. Januar 2001, S. 46. ; Thomas Assheuer, Die neue Genmystik. In: DIE ZEIT, v. 6. Juli 2000, S. 37.
So fragte kürzlich Paolo Bianchi: ders., Kunst ohne Werk - aber mit Wirkung. In: Kunstforum International, Bd. 152, Okt. - Dez. 2000, S. 67.
Vgl. ausf. Gottfried Boehm, Eine kopernikanische Wende des Blicks. In: Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung. Hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bonn/Göttingen 1995, S. 25-34.
Einen Überblick auch zur bisherigen Forschungsgeschichte findet sich bei Kaja Silverman, Der Blick. In: Jörg Huber, Martin Heller, Konturen des Unentschiedenen. Zürich 1997, S. 239 - 255. Wolfgang Kemp hat als einer der ersten Kunsthistoriker schon Mitte der achtziger Jahre auf filmtheoretische Begriffe (besonders den der suture , vgl. zu dem Begriff Silverman, S. 241.) Bezug genommen.
Das Thema des (Be-)Fragens der Kunst im Modus einer speziell ästhetischen Weise des Dialogs mit dem Medium Kunst spielt erst neuerdings eine Rolle. Erste Ansätze hierzu finden sich hierzu im  Werk von Jochen Gerz und Jenny Holzer. Vgl. Ausstellungskatalog Jochen Gerz. Res Publica. Das öffentliche Werk 1968-1999. Stuttgart 2000, S. 22ff. Christian Boltanski notierte kürzlich: „ Ich werfe Fragen auf, auf die ich keine Antworten weiß.(...) Indem sie Fragen stellt und zu uns von diesen Belangen spricht, indem sie nutzlos und mehr als nutzlos ist, „irgendwo außerhalb der Welt“, kann Kunst uns helfen, einen Sinn zu finden.“ zit. aus: Ausstellungskatalog Amnesia. Die Gegenwart des Vergessens. Bremen 2000, S. 76 u. 82.  Bereits Joseph Beuys äußerte im Jahr 1965: „Meine eigenen Darbietungen sollten in einer künstlerischen Demonstration neuer plastischer Fragen bestehen.“ Zit. n. Uwe Schneede, Joseph Beuys  - Die Aktionen. Stuttgart 1994, S. 50.
Gottfried Boehm, Die Gegenwart des Vergangenen. Erinnerung als Konzept der Kunstgeschichte. In: Hans-Rudolf Meier und Marion Wohlleben. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege. Zürich 2000, S. 77 - 85.
Johann August Schülein, Im Dilemma der Darstellung. Humanwissenschaftliche Textstrategie zwischen Dichter Beschreibung und Denotation. In: Johanna Hofbauer et.al. (Hg.) Bilder-Symbole-Metaphern. Visualisierung und Informierung in der Moderne. Wien 1995, S. 37.
vgl. Stefan Heidenreich, Kunst und Theorie. In. Wolfgang Zinggl (s. Anm.2), S. 76f.
Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Frankfurt/Main 1987, S. 22f. zit. Nach Schülein (s.Anm.18), S. 40.
vgl dazu die anregende Studie von Hans Belting: Bild-Anthropologie. München 2001
  vgl. dazu T. Baumgärtel (s. Anm. 8), S. 021.